Ein Plädoyer zur Europawahl
Im Mai, genauer gesagt am letzten Wochenende des Monats, ruft die EU wieder zur Wahl des Europaparlaments auf. Eine Wahl die so niemand wirklich ernst nimmt. Bei der letzten Wahl machte nicht einmal jede*r zweite EU-Bürger*in von seinem/ihrem Wahlrecht Gebrauch. Auch in Deutschland kennt der ungeschulte Blick meistens nur zwei Abgeordnete: Martin Schulz, der zu seiner Zeit als Parlamentsvorsitzender mit Leidenschaft versucht hat die Bürger*innen von seiner Institution zu begeistern und Martin Sonneborn, der es in seinen fünf Jahren als Abgeordneter schaffte so manche Brüsseler Skurrilität aufzudecken. Doch woher kommt diese Lethargie? Europa soll doch die Zukunft sein.
Nun, es gibt vieles was einem an der EU missfallen kann. Erst einmal wirkt die gesamte Institution irgendwie sehr abstrakt. Irgendwo in Brüssel entscheiden dort ein paar Abgeordnete über Gesetze, von denen die meisten eh nicht so ernst genommen werden. Bürgernähe ist das nicht.
Dazu wirkt noch alles sehr statisch und gelähmt. Oder wie es der Kollege Nils Minkmar letztens auf Twitter formulierte: „Europawahlen mit nationalen Kandidaten nationaler Parteien, die von nationalen Medien nach innenpolitischen Kriterien gedeutet werden. Für 1973 ok aber 2019 arg lame“. Recht hat er! Und trotzdem würde ich behaupten, die Wahl des Europaparlaments ist mindestens die wichtigste Wahl dieses Jahres.
Das Problem mit der Aufmerksamkeit
Denn so unwichtig ist Brüssel nicht, besonders heute. Die politische Integration Europas, eine einheitliche Asylpolitik, die Regulierung der Wirtschaft, aber auch beispielsweise Standards in der Umweltpolitik – alles Aufgabenbereiche die der EU zufallen. Nur hat die EU ein riesiges Marketingproblem.
Martin Schulz ist bis heute der einzige Politiker, der es wirklich verstand mit seiner Arbeit im Parlament zu polarisieren. Anders als seine Vor- und Nachfolger, verstand er sein Amt nicht schlicht als unauffälliger Moderator der Debatte, sondern sorgte mit einprägsamen Aktionen für Aufmerksamkeit. Sein Rauswurf eines rechtsradikalen griechischen Abgeordneten klickten über eine Million Leute auf YouTube an. Nur ist es nicht gerade einfach dauerhaft zu polarisieren, wo die Arbeit im Parlament doch so schwerfällig und langsam ist, oft ohne direkten Bezug auf unseren Alltag. Das ist aber im Bundestag nicht großartig anders, schließlich liegt die Trägheit in der Natur der Demokratie!
Was der EU fehlt, sind quotenstarke Medien, die es sich zur Aufgabe machen hauptsächlich über die EU zu berichten. Oder europäische Parteien, die in ihren Parteiprogrammen die EU in den Vordergrund stellen. Man stelle sich vor, eine Partei ohne nationalen Interessen, sondern einzig an der Integration in der EU bedacht, eine junge Zeitung die ihre ersten Seiten des Politikteils nur der EU widmet, oder ein größerer YouTube Kanal, der es sich zur Aufgabe macht, die Brüsseler Politik zu entwirren. Wieso eigentlich nicht?
Denn Aufmerksamkeit und Beobachtung der Abgeordnetenarbeit würde auch gegen das größte Problem der EU helfen – dem Lobbyismus. Heute arbeiten bis zu 25.000 Lobbyistinnen und Lobbyisten in Brüssel. Ihre einzige Aufgabe ist es, die Interessen ihrer Konzerne durchzusetzen. Und wenn so viele Großunternehmen ihre Interessen dort durchsetzen wollen, kann die EU nicht ganz unwichtig sein. Während die Konzerne schon lange das Potential und die Kraft der EU verstanden haben, schafft es die Bevölkerung noch nicht sie vollständig zu akzeptieren. Uns, für die die Politik doch gemacht werden soll, ist Brüssel egal, weshalb wir die Großunternehmen dort machen lassen, was sie wollen. Und je egaler es uns wird, desto leichter haben es die Unternehmen, ein Teufelskreis.
Mut zur Blamage
Aber ist die EU dann nicht schon gescheitert? Oft beschweren sich Politiker*innen, genau wie Bürger*innen über die unfassbare Bürokratie der EU. Die EU ist aber auch kein kleines Projekt. Wie soll der Aufbau einer Institution gelingen, die so unglaublich viele Kulturen, Geographien und Sprachen verbindet, wenn nicht über einen enormen bürokratischen Aufwand? Die EU befindet sich noch in ihrer Anfangsphase, erst einmal müssen Abläufe sich verfestigen, Dolmetscherprobleme gelöst werden, Standards reguliert werden. Dabei ufern die regulativen Vorgänge eben manchmal aus, was aber schwer zu verhindern ist. Dass der schlechte Ruf der Regulationen zum Großteil auf Politiker*innen zurückgeht, die Brüssel zum Sündenbock verdammen, sei nur nebenbei bemerkt.
Vielleicht hilft es die positiven gegen die negativen Aspekte der EU zu aufzulisten: Auf der einen Seite steht die Bürokratie mit all ihren Fehlern und skurrilen Ausläufen und der extreme Lobbyismus. Auf der anderen Seite steht die Tatsache, dass die EU das einzige Projekt ist, das es vollbracht hat seit über 70 Jahren Frieden in West- und Mitteleuropa zu sichern.
Heute existiert der Schengenraum, es ist möglich Europareisen zu unternehmen, ohne auch nur ein einziges Mal eine Grenze wahrzunehmen. Jede*r EU Bürger*in genießt die Freiheit an jedem Ort der EU zu arbeiten, oder zu studieren. Eine ganze Generation von Menschen wächst mit einer tiefeuropäischen Identität auf. Und all das nur drei Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg. Je mehr man sich das zu Augen führt, umso unglaublicher wirkt es. Und trotzdem sind die Argumente gegen die EU nicht aus der Luft gegriffen.
Geht wählen!
Das Europarlament ist das einzige direktgewählte Organ der EU. Wer von einer anderen, humanitäreren und bürgernahen EU-Politik träumt, kann mit der Wahl anfangen, sich für eine solche zu entscheiden. Und selten war das so relevant wie heute. Die EU befindet sich im Moment in einer Zeit des Umbruchs: Neurechte attackieren ihre Legitimität von allen Seiten, eine funktionierende Sozialdemokratie existiert nicht mehr in Europa. Europa schottet sich ab, Menschen sterben im Mittelmeer. Wer sich ein schnelles Bild über das Abstimmverhalten der Abgeordneten machen möchte, dem sei das Interview der Rheinischen Post mit Martin Sonneborn ans Herz gelegt. Um es grob herunterzubrechen: Im Moment existiert keine Mehrheit, die ein humanitäres Europa vertreten würde. Und das einfachste Mittel sich für ein solches einzusetzen, ist die Wahl!
Das Parlament entscheidet mit über die Gesetze der EU, es kontrolliert den Haushalt. Es wählt auch die Europäische Kommission, also quasi die europäische Regierung, und kann diese durch ein Misstrauensvotum genauso absetzen lassen. Das Parlament ist also schon lange nicht mehr das nutzlose, repräsentative Organ, das es früher mal war, sondern eine Institution mit weitreichenden legislativen und exekutiven Aufgaben. Wer sich also eine andere Politik in der EU wünscht, sollte dem in der Wahl Ausdruck geben. Denn während in den anderen Organen nur ausgesuchte Abgeordnete aus den jeweiligen nationalen Regierungen sitzen, repräsentiert das Parlament die Bürger*innen der Union.
Es ist gar nicht so schwer Einfluss auf Brüssel zu nehmen. Großunternehmen haben das schon lange verstanden und es wird Zeit, dass wir Bürger*innen das auch schaffen. Denn wenn wir Brüssel ernst nehmen, dann dauert es auch nicht lange bis die europäischen Parteien und Zeitungen entstehen. Dann wird die politische Integration endlich der wirtschaftlichen Integration folgen. Wir müssen die EU nur ernst nehmen.