Liebes Ungarn, die EU ist auch eine Wertegemeinschaft
Ein Kommentar von Lucas Kulczycki
Kaum ein Tag verging in den letzten Wochen, ohne dass etwas über Flüchtlinge berichtet wurde. Neue Flüchtlingsanstürme hier, Grenzschließungen da, Reporter, die Flüchtlingen ein Bein stellen, dort. Zweifellos ist die Flüchtlingskatastrophe schon jetzt das Thema, welches mit dem Jahr 2015 verbunden bleiben wird.
Ein Land jedoch ist ganz besonders aufgefallen: Ungarn. Beziehungsweise dessen Ministerpräsident Viktor Orbán. Dieser „überraschte“ fast jeden Tag mit neuen, skandalösen Aussagen über Flüchtlinge. Neuerdings lässt er an Ungarns EU-Außengrenze zu Serbien wie einen „Eisernen Vorhang“ bauen, damit bloß keine – wie er die Hilfesuchenden nennt – „illegalen Einwanderer“ in sein Land kommen. Schaffen sie es doch, werden sie wie Schwerverbrecher behandelt und bestraft, ja, ab Mitte September drohen sogar Haftstrafen.
Noch viel tragischer jedoch ist das, was mit den Flüchtlingen passiert, die schon in Ungarn angekommen und in Erstaufnahmestellen aufgenommen sind. Dass eine ungarische Journalistin auf vor Krieg fliehende Menschen eintritt ist bereits unverständlich. Menschen in Flüchtlingslagern wie Vieh zu behandeln entbehrt hingegen jeder Grundlage.
Dieses Video geht um die Welt: In einem Flüchtlingslager – das eher einem Internierungslager gleicht – stehen Menschen an, um etwas zu essen bekommen. Anstatt jedoch dafür zu sorgen, dass anständige Schlangen gebildet und beispielsweise heiße Suppen verteilt werden, werfen die zuständigen Organisatoren etwas, das wie ein Packen trockener Brötchen aussieht, wild in die Menge. Eine menschenunwürdige, menschenverachtende und zu tiefst verstörende Situation. (Warnung: Die Kommentare unter dem Video sind zum Teil unerträglich. Wer schnell einfühlsam wird, sollte auf das Lesen verzichten.)
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes. Dieses gilt zwar nicht in Ungarn. Jedoch ist die EU eine Wertegemeinschaft: Menschenrechte, Demokratie und Marktwirtschaft zählen dazu. Darunter fällt auch, dass Bedürftigen geholfen wird. Darunter fällt auch Religionsfreiheit. Und darunter fällt auch, dass jeder Mensch das Recht auf ein Leben in Sicherheit und ohne Diskriminierung hat.
Nun könnte man auch argumentieren, dass Ungarn wirklich von Flüchtlingen überrannt wurde und dass die wirtschaftliche Leistung des Balkanstaates nicht ausreicht, um derart viele Flüchtlinge aufzunehmen. Gleichzeitig verlangt jedoch das europäische Recht, dass Ungarn diese Menschen vorübergehend aufnehmen muss. Das Dublin-III-Abkommen sieht vor, dass ein Flüchtling in dem Land seinen Asylantrag stellen muss, auf dessen Gebiet er das erste Mal EU-Territorium betritt. Die meisten Flüchtlinge wollen sich jedoch nicht in Ungarn registrieren lassen. Sie wollen ihren Asylantrag nicht im Land des Viktor Orbán stellen – und dieser will das auch nicht.
Allerdings ist nicht nur das Handeln der ungarischen Regierung zu verurteilen. Viele osteuropäische EU-Staaten wehren sich dagegen, Menschen aufzunehmen. Serbien will Flüchtlinge nur aufnehmen, wenn sie Christen sind; Muslime würden sich dort ohnehin nicht wohlfühlen, sagte ein Ministeriumssprecher. Polen bezeichnet Deutschlands Druck, um eine zentrale Verteilung auf die ganze EU durchzusetzen, als „Erpressung“. Die Tschechische Republik macht ganz dicht. Dass auch viele Menschen aus diesen Ländern vor knapp 25 Jahren noch Flüchtlinge waren, scheint vergessen. Christliche Werte der Nächstenliebe – welche ja gerade in Polen, in dem fast 90% der Bevölkerung katholisch ist, durchgesetzt werden sollten – scheinen vergangen. EU-Gelder kassieren wollen sie aber alle.
Gibt es für all das eine universale Lösung? Leider nein. Aber wenn Kanzlerin Merkel ihren Einfluss nutzt, um eine zentrale Verteilung durchzubekommen, wäre dies bereits ein Anfang. Ihre Griechenlandpolitik zeigt schließlich, dass sie sowas kann. Als nächstes sollten die EU-Staaten, die nicht helfen wollen, sanktioniert werden: EU-Gelder kürzen, so wie Österreichs Innenministerin Mikl-Leitner es vorschlägt, ist da das Mindeste. EU-Kommissionschef Junker leitete bereits mehrere Verfahren gegen EU-Staaten ein, die sich nicht an die Regeln halten und sich der Solidarität entziehen. Auch sollte weiterhin geprüft werden, ob es Grundlagen dafür gibt, um vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen.
Ich muss in diesen Tagen zugeben, dass es mich ein wenig stolz macht, in Deutschland leben zu dürfen. Es scheint, als wären wir zusammen mit Schweden die Einzigen, die wirklich helfen. Jeweils 20.000 Flüchtlinge, die Frankreich und Großbritannien aufnehmen, sind besser als Nichts, jedoch weit entfernt von der Hilfe, die benötigt wird. „Mutti Theresa“, wie die heute-show es nennt, scheint in dieser Situation die Einzige Regierungschefin zu sein, die Menschlichkeit zeigt. Und dass „Schrei nach Liebe“ von den Ärzten während dieser humanitären Katastrophe auf Platz 1 der deutschen Charts landet, obwohl das Lied bereits 22 Jahre alt ist, sagt mehr als genug über unsere Gesellschaft aus. Ja, Deutschland trägt teilweise selbst Schuld daran, dass uns diese Krise so hart trifft, und auch ist Deutschland für den Dublin-Vertrag mitverantwortlich, welcher heute absolut nutzlos und kontraproduktiv ist – aber wenigstens zeigen wir Menschlichkeit. Und ein Großteil der Welt feiert das.
Doch obwohl das Helfen wichtig und richtig ist, darf der Staat jetzt nicht schluderig werden. Kontrollen sind wichtig, zwischen all den wirklich Hilfesuchenden könnten sich „Schläfer“ verstecken. Wäre hier der Ernstfall gegeben, könnte die Stimmung im Land gegenüber der Flüchtlingsmassen schnell kippen. Auch muss geprüft werden, ob alle Menschen, die hier angekommen, wirklich Asyl bekommen dürfen. Und zu guter Letzt muss dafür gesorgt werden, dass alle Menschen, die bleiben dürfen, auch integriert werden. Nur so hat der Staat auch einen Nutzen aus dem Ganzen, und nur so kann verhindert werden, dass es später zu weiteren innenpolitischen Problemen kommt.